Maxim Gorki Theater - "Geschwister"
2. Juni 1967: Ein Tag im Leben einer bürgerlichen Familie in Westdeutschland: Mutter, Vater und drei Kinder. Und dann der Zeitsprung. Die Kinder sind erwachsen geworden und obwohl in derselben Familie aufgewachsen, sind die Lebenswege der drei "Geschwister" sehr unterschiedlich. Das neue Stück von Ersan Mondtag stellt Fragen nach dem Weiterwirken des Nationalsozialismus in den Familien - bis zum Beginn der Nullerjahre und den ersten Morden des NSU.
So wenig Begeisterung beim eingefleischten Gorki-Publikum war selten. Wo sonst Freunde, Fans, Gorki-Familie noch jede Premiere mit Gejohle und Standing Ovations abfeiern, ist beim Schlussapplaus diesmal nur verlegenes Klatschen zu hören. Oder ratloses? Vielleicht ein ermüdetes Klatschen? Als der Regisseur auf die Bühne kommt, fällt sogar ein Buh. Das ist dem erfolgsverwöhnten Ersan Mondtag sicher noch nicht häufig passiert.
Ratlos, ermüdend, ermattend
Muss, soll, will die Kritikerin den Abend gegen das Publikum verteidigen? Nein, sie schließt sich an. Ebenfalls ratlos, ermüdet, ermattet von der erstaunlich bleiernen Schwere dieser gedanklich so leichtgewichtigen Uraufführung.
Graubleiern sind auch die Gesichter der Schauspieler:innen auf der Bühne, bleigrau ist das Bühnenbild von Simon Lesemann, in fahles Licht ist der Zuschauerraum getaucht, denn, ganz recht, wir befinden uns in der bleiernen Nachkriegszeit. Die Standuhr tickt und zerteilt den Stillstand in unendlich viele Einheiten.
Bleierne Nachkriegszeit
Tschaikowsky spielt aus dem 50er-Jahre Radioapparat. Wir schauen ins Innere einer Gründerzeitvilla am Wannsee. Hirschgeweih, Ohrensessel, Hausbar, Salon, Bibliothek und Kunst an der Wand. Man befindet sich in gutem Hause. Aus dem Radio nun die Nachrichten vom 2. Juni 1967 – es ist der Tag der Studenten-Revolte, der Schah ist zu Besuch, später wird Benno Ohnesorg erschossen sein.
Die junge, seltsamerweise türkische Haushälterin deckt eine gefühlte Ewigkeit den Tisch. Und die reiche Familie, die augenscheinlich weit rechts bestens durch den Nationalsozialismus gekommen ist, setzt sich nach und nach. Die Kinder kommen endlich nach Hause. Zuerst Eva-Maria und Friedrich, die es durch die Demonstrationen kaum nach Hause geschafft haben. Später die Tochter Elisabeth: Lea Draeger als Rebellin im Gudrun-Ensslin-Look, die sarkastisch über das rechte Geschichtsbild ihrer Eltern herzieht: "Vater, du bist ein richtiger Held. Wie du von Dresden den ganzen Weg nach Berlin geflüchtet bist. Und Mutter, wie du gelitten hast. Du armes, armes Opfer!"
Bleigraue Figuren
Der Vater, der dafür kämpft, dass die Nazi-Verbrechen vor Gericht schnell verjähren, begießt den Geburtstag seines Nazi-Vaters. Bis Elisabeth das Radio aufdreht, wo ihre wütende Rede auf der Studentendemo gesendet wird: "Es lebe der antifaschistische, antiimperialistische Kampf! Wir fordern endlich eine richtige Entnazifizierung!"
Später in der Nacht packt Elisabeth ihren Koffer, dreht den Gashahn für alle Angehörigen auf und geht. Doch ausgerechnet die türkische Hausangestellte rettet die Familie. Elisabeth stirbt dagegen in der Revolte.
35 Jahre später, nach dem Tod der Eltern, kommen die beiden erwachsenen Kinder zurück ins Geisterhaus, wo noch die bleigrauen Figuren der Vergangenheit herumspuken. Der Schauspieler David Bennent, einst Schlöndorffs Oskar Mazerath in seiner Verfilmung der "Blechtrommel", fordert hier als erwachsener Sohn in einer kleinen Rolle die dunkle Seite des Erbes, die Tagebücher der Eltern ein. Das Haus bricht zusammen. Und im Radio springt die Zeit auf September 2000: Die Nachrichten vermelden den Tod von Enver Şimşek, ermordet vom NSU.
Banaler Kurzschluss von NS-Zeit zu NSU
Ersan Mondtags Inszenierungen haben noch nie durch besondere geistige Höhenflüge bestochen – er ist ein Theatermann der starken Bilder. Und auch an diesem Abend ist die bleigraue Horror-Ästhetik formstreng schön. Doch einen derartig banalen Kurzschluss von NS-Zeit zu NSU hat man wohl noch nie gesehen. Und die Geschichte von der braven und der revoltierenden Schwester, wie sie sich in den 1960er Jahren bei der Familie Ensslin zugetragen hat, erzählt Margarethe von Trotha in ihrem Filmklassiker "Die bleierne Zeit" deutlich aufschlussreicher. Der Titel ließe sich allerdings bestens auf den gefühlten Beinahe-Stillstand dieses Theaterabends übertragen.
Barbara Behrendt, rbbKultur