La Pietà & Angèle Dubeau: Elle © Analekta
Bild: Analekta

"Best of 22": Album der Woche | 08.08. - 14.08.2022 - La Pietà und Angèle Dubeau: "Elle"

La Pietà ist das erfolgreichste Kammerorchester in Kanada. In diesem Jahr feiert das Frauenensemble sein 25-jähriges Bestehen und Ensemblechefin Angèle Dubeau hat aus diesem Anlass ein besonderes Album produziert. Für "Elle" wurden ausschließlich Werke von Komponistinnen aufgenommen, hauptsächlich reflektive, "neoklassische" Stücke.

Ein Album konzipiert, komponiert und realisiert von Frauen, hatte sich die Violinistin Dubeau vorgestellt. Und so wurde der Plan auch in die Tat umgesetzt, mit Werken von zwölf zeitgenössischen Komponistinnen, ergänzt um ein Stück der mittelalterlichen Äbtissin Hildegard von Bingen. Natürlich steht Dubeau mit ihrer Geige im Mittelpunkt, denn die meisten Kompositionen erklingen in Bearbeitungen für Violine und Kammerorchester.

Angèle Dubeau, Violinistin © Luc Robitaille
Bild: Luc Robitaille

Unspektakulärer Beginn

Die Gründung des Ensembles war eher ein Zufall gewesen. Für eine Aufnahme von Konzerten Antonio Vivaldis suchte die international erfolgreiche Solistin Angèle Dubeau 1997 ein Begleitensemble. Allerdings wollten alle in Frage kommenden Orchester mit einem Dirigenten anreisen. Da Dubeau das Projekt aber selbst leiten wollte, stellte sie kurzerhand ein eigenes Ensemble zusammen. Und als ihr dafür vor allem Musikerinnen einfielen, entwickelte sie daraus ein Programm und lud nur Frauen ein.

Euphorie

Schnell erkannte die Gründerin das Potential der neuen Formation. Sie selbst konnte sich als Solistin, Dirigentin und Programmgestalterin verwirklichen. Und mit ihren Mitmusikerinnen entwickelte sich eine besondere Dynamik.

"Wir waren von Anfang an mit großer Begeisterung dabei. Wir waren einfach glücklich, und die Leidenschaft, die wir entwickelten, wurde zu einer Quelle enormer Energie. Unser Vergnügen war ansteckend", erklärt Dubeau.

Erfolg

Ein Vierteljahrhundert später kann sie mit Stolz auf den Erfolg ihres Orchesterprojekts verweisen. Hunderttausende von verkauften Alben einerseits und individuelle nationale Ehrungen für Dubeau andererseits sind ein sprechendes Indiz dafür. Benannt nach dem venezianischen Waisenhaus, in dem Vivaldi wirkte, ist La Pietà international gefragt. In jedem Jahr erscheint ein neues Album des Orchesters, das millionenfach in Streamingdiensten abgerufen wird.

Zeitgenössisches

Bei der Repertoireauswahl verzichtet Angèle Dubeau mittlerweile fast vollständig auf klassisch-romantische Standardwerke. Stattdessen führt sie Kompositionen von Zeitgenossen auf, oft aus den Bereichen Minimal Music, Filmmusik oder Neoklassik. Der Austausch mit den Urhebern der Musik ist ihr sehr wichtig – und dies galt ganz besonders für das Jubiläumsalbum "Elle". Der Titel "Elle" (französisch für "sie") soll dafür stehen, dass jede Frau einzigartig ist.

Instinkt und Genuss

In die Suche nach geeigneten Werken für das Album hat Dubeau viel Zeit investiert. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, so groß war die Auswahl:

"Ich habe einfach Stücke gesammelt, die mich ansprechen. Dabei bin ich meinen Instinkten gefolgt, meiner Sorgfalt und meinem Genuss, und habe schließlich Werke von zwölf großartigen Komponistinnen aus der ganzen Welt ausgesucht. Sie bieten sehr vielfältige Stücke.“

Sanfte Klänge

Im Großen und Ganzen ist "Elle" ein Album der ruhigen und teilweise melancholischen Töne geworden. Angèle Dubeau begründet dies mit den Interessen der Komponistinnen, die ihre Werke oft mit einer emotionalen Ausrichtung geschaffen hätte. "Introspection" ist beispielsweise der Titel einer Komposition der Engländerin Jocelyn Pook. Die Stücke sollten wohl insgesamt eine innere Ruhe ausstrahlen, so Dubeau, teilweise ginge es aber einfach darum, eine gewisse Klangatmosphäre zu erzeugen.

La Pietà © La Pietà
Bild: La Pietà

Vielklang

Trotz der ähnlichen Anmutung vieler Stücke bringt jede der vertretenen Komponistinnen doch ihre eigene Klangsprache ein. Besonders auffällig ist "Mémoire", das Dubeau bei ihrer Landsfrau Katia Makdissi-Warren in Auftrag gegeben hat. Das Stück verbindet Streichersound mit der Tradition des Kehlgesangs der Inuit, von dem Dubeau sehr beeindruckt ist. Zwei Sängerinnen waren an den Aufnahmen beteiligt, doch darüber hinaus wurden in das Stück auch Archivaufnahmen aus den 1950er Jahren eingewoben.

Kontrast

Im Kontrast zu den überwiegenden langsamen Kompositionen auf dem Album stehen energiegeladene Stücke wie das treibende, minimalistische "Arise" von Isobel Waller-Bridge oder das unruhige "The Orangery" der preisgekrönten New Yorkerin Caroline Shaw. Sie hat hier Ideen von Raum und Proportion aus der Architektur mit Empfindungen beim Aufenthalt in Gebäuden des eleganten Studienzentrums Dumbarton Oaks in Washington verknüpft.

Austausch

Im Booklet zur CD drücken viele der Komponistinnen ihre Freude darüber aus, dass und wie Angèle Dubeau ihre Stücke adaptiert hat. Aus dem Austausch mit den Tonschöpferinnen seien auch neue Freundschaften entstanden, erzählt Dubeau.

Besonders angenehm sei der Kontakt zur in Australien lebenden Elena Kats-Chernin verlaufen, die auf fantasievolle Weise Bachs Zweistimmige Invention in F-Dur adaptiert hat. Ihr für Blockflöte geschaffenes Stück hat Dubeau nun für Geige arrangiert. Kats-Chernin ist mit zwei Werken auf dem Album vertreten, ebenso wie Jocelyn Pook und die junge Britin Rebecca Dale. Von dieser sollte zunächst nur das atmosphärische Stück "Winter" auf das "Elle"-Album kommen. Doch Dale bat Dubeau, eine weitere Komposition zu übernehmen, ein Arrangement des bewegenden "Libera Me" aus ihrem "Materna Requiem". Dies hatte sie zur Erinnerung an ihre Mutter geschaffen, die an Brustkrebs verstarb.

Rainer Baumgärtner, rbbKultur