Helmut Lethen: Der Sommer des Großinquisitors © Rowohlt Berlin
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Über die Faszination des Bösen - Helmut Lethen: "Der Sommer des Großinquisitors"

Als der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen auf den Großinquisitor aus der Legende Dostojewskis stieß, hat diese Figur ihn sofort elektrisiert. Der verknöcherte Greis, der den wiedergekehrten Jesus auf dem Scheiterhaufen verbrennen will, ist für Lethen die Inkarnation des Bösen oder vielmehr eines Machtapparats, für den Moral nicht zählt. Lethen untersucht in seinem fulminaten, hochaktuellen Essay die Wirkungsgeschichte von Dostojewskis Legende und entdeckt ihre Spuren in der Esoterik des Fin de Siècle, in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, in der stalinistischen Sowjetunion und überall, wo politische Gegner verfolgt werden.

Wer über "das Böse" schreibt, steht im Verdacht, Metaphysik zu betreiben. Für Helmut Lethen gilt das nicht, auch wenn sein neues Buch "Der Sommer des Großinquisitors" laut Untertitel von der "Faszination des Bösen" handelt.

"Das Böse" als Metapher und zugleich als politische Kategorie

Für Lethen ist "das Böse" eine Metapher und zugleich eine politische Kategorie, die er aus Dostojewskis Legende vom Großinquisitor aus den "Brüdern Karamasow" gewinnt. Mit der Nacherzählung dieser Legende beginnt das Buch. Sie spielt im Spanien des 16. Jahrhunderts in Sevilla, wo der wiederauferstandene Jesus Wunder vollbringt, während auf dem Marktplatz Ketzer verbrannt werden. Der Großinquisitor lässt Jesus verhaften und erklärt ihm im Kerker, warum er verbrannt werden muss: weil er die Macht der Kirche und die bestehende Ordnung störe. Die Menschen können die Freiheit, die Jesus ihnen gibt, gar nicht ertragen und wollen lieber als Herde geführt werden. Abweichlertum ist nicht vorgesehen.

Das Böse steht demnach für den Machtapparat der katholischen Kirche, die laut Dostojewskis Großinquisitor tatsächlich nicht mit Gott, sondern mit dem Teufel im Bunde steht. Allerdings in der Annahme, das der Teufel zwar das Böse will, aber doch das Gute – nämlich Stabilität und Sicherheit – schafft. Von da aus ist es nicht schwer, die historischen Fäden zu ziehen hin, die bei Lethen über die Esoteriker des Fin de Siècle und die Avantgardisten vor allem ins bolschewistische Russland und in die stalinistische Sowjetunion führen.

Passagen von erschreckender Aktualität

Auch wenn das heutige Russland unter Putin und sein verbrecherischer Angriffskrieg mit keinem Wort erwähnt werden, sind diese Passagen von erschreckender Aktualität, weil deutlich wird, wie tief die aus der Orthodoxie heraus begründete Aversion gegen den Westen im russischen Bewusstsein verankert ist.

Lethen zeigt das am Beispiel von Wladimir Solowjows zehn Jahre nach Dostojewski entstandener "Kurzen Erzählung vom Antichrist" – der Dystopie eines von der katholischen Kirche beherrschten, imperialen "Vereinigten Europas", gegen das allein die russische Orthodoxie Widerstand leistet. Solowjows Erzählung, kommentiert Lethen, kursiere heute in Kreisen der Neuen Rechten "als hellsichtige Prognose einer Übermacht Brüssels".

Er, der in den Jahren nach 1968 den Maoisten angehörte, muss es wissen. Schließlich ist er mit einer Frau verheiratet, die zur Neuen Rechten gehört.

Von Faszinierten und Faszinierenden

Das Frösteln, das einen an dieser und vielen anderen Stellen des Buches überfallen könnte, ist gewollt. Helmut Lethen wurde einer größeren Öffentlichkeit in den 1990er Jahren mit seinen "Verhaltenslehren der Kälte" bekannt, ein Buch, das vor allem von den Rechts-Intellektuellen in der Epoche zwischen den Weltkriegen handelte. Statt von der Faszination des Bösen könnte Lethen auch darüber schreiben, warum ihn Leute wie Helmuth Plessner, Arnolt Bronnen, Carl Schmitt oder Ernst Jünger so faszinieren.

Sie bilden auch im neuen Buch die Reihe der Faszinierten und Faszinierenden, sind allerdings weniger vom Bösen als Machtapparat wie in Dostojewskis Legende angezogen, als von der antibürgerlichen und antiliberalen Sehnsucht nach einer Intensivierung des Daseins. Jünger etwa suchte diese Intensivierung im Krieg. Er erlebte die Möglichkeit des Todes als ultimative Herausforderung gegen alles Verweichlichte, Schwache, Unentschiedene. Staat, Bürokratie und Macht sind dieser Haltung allerdings eher Gegner, so dass sie nicht wirklich an die Position des Großinquisitors anschließbar ist. Lethen versucht das trotzdem, indem er "Macht" und "Kälte" gewissermaßen überblendet und immer wieder punktuelle Berührungen mit Dostojewski betont.

Die neue Rechte und das gegenwärtige Russland bleiben schwarze Löcher des Diskurses

Nicht nur an dieser Stelle wirft Helmut Lethens anregender Lektürenbericht über die Rezeptionsgeschichte des Großinquisitors als Parforceritt durchs totalitäre 20. Jahrhundert Fragen auf. Wie verhalten sich "Macht" und "Kälte" zueinander? Ist die Hölle nicht vielmehr ein heißer Ort? Wie böse ist "das Böse" denn nun wirklich und was nutzt es, unterschiedliche Phänomene unter diesem Begriff zu subsumieren?

Auch wenn Lethen gern "ich" sagt und eigene Erfahrungen einbringt, bleiben sowohl die neue Rechte als auch das gegenwärtige Russland schwarze Löcher des Diskurses, auf die aber alles zuläuft. Stattdessen führen Exkurse zum Schmerz und zum Nihilismus und schließlich zu einem fast versöhnlichen Ende. Lethen schließt mit der Behauptung, die Faszination des monotheistischen Bösen, "die sich an politische, militärische oder religiöse Gehäuse klammere", habe ausgedient.

Das scheint angesichts der gegenwärtigen Weltlage dann aber doch eine allzu optimistische Hoffnung zu sein.

Jörg Magenau, rbbKultur

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