Notizbuch. 24. April – 26. August 1978 - Peter Handke: "Die Zeit und die Räume"
Seit November 1975 und bis heute führt Peter Handke kontinuierlich seine Notizbücher. Wo er geht und steht – er hat sie immer dabei. Sie umfassen inzwischen mehr als 35.000 Seiten und sind damit der umfangreichste Teil seines Werkes. Die Notizbücher bis 2017 hat das Deutsche Literaturarchiv in Marbach erworben. Dort werden sie in einem langfristigen Projekt nach und nach digitalisiert und Online gestellt. Als erste Beispiel ist das Notizbuch vom 24. April bis zum 26 August 1978 nun dort abruf- und einsehbar. Zugleich ist es pünktlich zu Handkes 80. Geburtstag auch als Buch erschienen.
Mit dem jetzt erschienenen Buch liegt zum ersten Mal eines seiner Notizbücher vollständig vor, nachdem immer wieder Auszüge daraus als "Journale" erschienen sind, die sein Werk begleiten und kommentieren.
Handke - eine Schreibexistenz durch und durch
Dabei betrachtet Handke selbst seine Notizbücher gar nicht als "Werk", weil sie nichts Gemachtes sind, sondern absichtslos nebenbei entstehen. Sie haben keine feste Form, keinen Anfang und kein Ende. Doch gerade deshalb stehen sie als endloser Paralleltext im Zentrum seines Schaffens. Sie dokumentieren auf eindrucksvolle Weise, dass Handke nicht einfach bloß ein Schriftsteller ist, der Bücher verfertigt, sondern eine Schreibexistenz durch und durch. Alles, was ihm begegnet, verwandelt er in Sprache. Erst dann, wenn es benannt und möglichst genau beschrieben ist, ist es wirklich geworden.
Bewusstseinsprotokolle
Das Sehen vollzieht sich bei Handke als sprachlicher Prozess. Dabei kann man ihm in den Notizbüchern zuschauen. Sie sind nicht bloß Übungshefte eines Schriftstellers (1978 arbeitete er an den Prosatexten "Langsame Heimkehr" und "Die Wiederholung"), sondern Bewusstseinsprotokolle, die ihm dazu dienen, flüchtige Wahrnehmungen, Eindrücke, Ereignisse festzuhalten oder vielmehr: sie überhaupt erst schreibend hervorzubringen. Schreiben ist ein Schöpfungsvorgang, ein Verfertigen von Welt. Die Notizbücher sind eine Schule des Sehens und – auch das ist wichtig bei Handke – des Gehens. Er erwandert sich die Welt. Auch dafür geben die Notizen aus dem Jahr 1978 ein Beispiel, weil er damals zu Fuß und mit Bus und Bahn in Slowenien, dem Land seiner Mutter, unterwegs gewesen ist.
Wahrnehmungen
Alles geht bei Handke von der Wahrnehmung aus. Er denkt in Bildern und beginnt die Annäherung an die Gegenstände in vielen Fällen, indem er sie zeichnet, so zum Beispiel Kaffeetassen, Blätter und Bäume, Berglinien und Landschaften und vor allem immer wieder Schattenschraffuren, aus denen heraus die Konturen der Dinge spürbar werden. Dabei geht es ihm darum, sich ganz und gar zu öffnen und aufnahmebereit zu sein. "Geschehen lassen können", nennt er das in einer Selbstbeobachtung, oder "Ent-Dinglichung der Wahrnehmung; die Dinge in sich hineindenken und sie dort "gewähren lassen" (das wäre sein Weltgefühl)".
Das Ich ist für dieses "Weltgefühl" erklärtermaßen etwas anderes als das Bewusstsein. Das Ich kann genauso Gegenstand dieses Bewusstseins sein wie die äußere Welt. "Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" lautet nicht ganz zufällig einer der sprichwörtlich gewordenen Handke-Titel. Das Bewusstsein ist ein weltoffener Innenraum, eine Ereignisstätte, in der sich alles versammelt, was dann zu Sprache wird. Hartnäckig versucht Handke Gegensätze und Grenzen aufzulösen, vor allem die zwischen den feststehenden Objekten "da draußen" und dem empfindsamen Subjekt. Wenn die Welt aus der Wahrnehmung entsteht, ist sie prozesshaft und immer unfertig, genauso wie das beobachtende Ich. Dann muss sie auch immer wieder von neuem beschrieben werden. Wie Bild und Text ineinander übergehen, ist auf den faksimilierten Seiten der Notizbücher zu sehen, wo Handke in seine grafischen Skizzen hineinschreibt oder um sie herum. Auf Seiten, die im Regen lagen, verschwimmen die Worte in den Wassertropfen und bilden Muster. Auch das ist erwünscht im Sinne des Geschehenlassens, wie alles, was sich ereignet.
Aus Zufall wird Schicksal
Es mag Zufall sein, was ihm begegnet, aber, sagt Handke, es gibt keinen "reinen" Zufall. Aus Zufall wird für ihn Schicksal, weil Zufall "immer einen Samen in sich hat". Aus jedem Zufall lässt sich etwas formen. In ihm stecken Möglichkeiten, die sich verwirklichen lassen. Darum geht es in dem unendlichen Schreibprozess von Peter Handke. "Die Zeit und die Räume" ist ja nur der zufällige Anfang eines vermutlich ebenfalls unendlichen Publikationsprozesses.
Jörg Magenau, rbbKultur