Roman - Mohamed Mbougar Sarr: "Die geheimste Erinnerung der Menschen"
In "Die geheimste Erinnerung der Menschen" nimmt der senegalesische Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr die Leser:innen mit auf eine labyrinthische Detektivjagd mitten ins Herz von Literatur und Kolonialismus. Eine Detektivgeschichte, die der Literatur selbst hinterherjagt und dabei auch noch den Kolonialismus und seine Auswirkungen verhandelt. Das – so viel vorab – ist einfach großartig. Und gleichzeitig auch ziemlich rätselhaft.
Aber von vorn, worum es geht … Auch wenn es im Roman heißt, die Frage, wovon ein Buch handelt, verkörpere das abgrundtief Böse in der Literatur. Aber lassen wir uns davon nicht einschüchtern und wagen einen Versuch.
"Die geheimste Erinnerung der Menschen" von Mohamed Mbougar Sarr erzählt vom jungen Schriftsteller Diégane, der aus dem Senegal nach Paris gekommen ist. Eigentlich sollte er seine Doktorarbeit schreiben, doch er ist gut im Prokrastinieren und saugt lieber die Pariser Nächte in sich auf, wälzt dabei mögliche Romansätze, trifft sich mit seinem kleinen Intellektuellenzirkel aus der afrikanischen Diaspora und lebt die Literatur.
Ein Buch der Bücher
Ihm fällt schicksalshaft (denn Zufall, dieser Satz fällt oft im Roman "ist nur ein Schicksal, das man nicht kennt") ein altes Kultbuch in die Hände, das seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen galt: "Das Labyrinth des Unmenschlichen" des senegalesischen Autors T.C. Elimane, der genau wie sein Werk wie ausgelöscht scheint aus der kollektiven Erinnerung.
Diégane ist auf der Stelle verzaubert von diesem Buch der Bücher, das alles, was je geschrieben wurde, vereint. Allzu viel mehr erfahren wir nicht, das Buch selbst bleibt auch für die Leser:innen ziemlich nebulös.
Aufstieg und Fall des "schwarzen Rimbauds"
Was rekonstruierbar ist: 1938 war "Das Labyrinth des Unmenschlichen" ein Highlight im französischen Literaturbetrieb: Elimane wurde von der französischen Kritik ebenso gehyped wie gefürchtet. Man konnte kaum glauben, dass ein Afrikaner in der Lage sein sollte, so etwas zu schreiben, so "weiße" Literatur, so wenig "exotisch". Von wohlwollenden Kritikern wurde er als "schwarzer Rimbaud" gefeiert, auf der anderen Seite hieß es, dieser Afrikaner maße sich an, zu schreiben wie Weiße.
Die ganze Palette an möglichen Rassismen also, ob nun gut gemeint oder böswillig. Allen war jedoch eines gemein: Die Kritiker interessierten sich mehr für den Autor als für seinen Text. Dann gab es noch einen Plagiats-Skandal, und nicht einmal die Gretchen-Frage "Plagiat oder Intertextualität?" wurde hinreichend verhandelt. Der mysteriöse Autor verschwand in der Versenkung, man hörte nichts mehr von ihm, man las nie wieder eine Zeile von ihm.
Suche nach Spuren eines verschwundenen Autors
80 Jahre später macht sich also Diégane auf die Suche nach Spuren von Elimane. Und von dieser Suche, von dieser Rekonstruktion eines Lebens – mit komplex verschachtelten Erzählebenen, über diverse Kontinente, durch die Kolonialzeit, die Zeit der Franzosen im Senegal, der afrikanischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg als Kanonenfutter dienten – von dieser verästelten Suche handelt "Die geheimste Erinnerung der Menschen". Zumindest ist das die offensichtlichste Ebene der Handlung.
Darüber hinaus verhandelt der Roman noch so viel mehr. So viele Suchen stecken darin. Ganz explizit ist die Suche eines Schriftstellers nach dem Buch, das aus einem herauskommen will. Da ist die Suche nach der eigenen Stimme, die Reise in die zwangsläufige Einsamkeit, die Suche nach dem Verhältnis von Leben und Literatur: Wie sehr geht das eine ins andere über, wird Teil davon?
Zwiespalt für Schriftsteller der afrikanischen Diaspora
Und speziell für afrikanische Schriftsteller stellt das Buch die Frage nach der eigenen Verortung: Wo schreibt man? Für wen? Auf welcher Sprache? Ist es Verrat, in Europa zu publizieren, bei den ehemaligen Kolonialisten, in weiterhin kolonialen und rassistischen Kontexten?
Ein Identitätskonflikt für Mohamed Mbougar Sarr, der mit dem Prix Goncourt 2021 den wichtigsten Preis Frankreichs verliehen bekommen hat? Könnte man meinen. Aber der 32-jährige Senegalese bietet im Roman die beste Replik darauf: Er nimmt einfach alles hemmungslos auf die Schippe, nichts ist vor seiner Ironie sicher: nicht der Literaturbetrieb, auch nicht er selbst und sein Schriftstellerwesen. Das hat einen sehr klugen und charmanten Witz.
Postkoloniale Haltung und unendliche Bibliothek
Gleichzeitig ist ihm sein Thema sehr ernst. Sein eigener Zwiespalt als afrikanischer Schriftsteller, der auf Französisch schreibt, wird klar benannt. Sarr schreibt aus einer postkolonialen Haltung: Genau wie Elimane eignet er sich alle möglichen Texte aus den verschiedensten Wissenskulturen an – sie alle finden Eingang in seinen Text. Allein schon die labyrinthische Struktur des Romans ruft einem Jorge Luis Borges immer wieder vor Augen.
Aber es ist nicht nur der traditionell-westliche Kanon, auf den sich Sarr beruft. "Die geheimste Erinnerung der Menschen" ist Yambo Ouologuem gewidmet, einem Schriftsteller aus Mali, dem ein ähnliches Schicksal wie das von T.C. Elimane in Frankreich zuteilwurde. Außerhalb der afrikanischen Diaspora gilt Ouologuem fast als vergessen. Sarr ist es, der die Erinnerung daran wieder aufleben lässt.
Mohamed Mbougar Sarrs Freiheit besteht darin, sich nicht einengen zu lassen durch den kolonialen Blick. Im Gegenteil: Er macht ihn sich und auch der Leserin bewusst und geht im nächsten Schritt darüber hinweg. Das ist so klug und so spannend – und diese wunderschönen Sätze! Man könnte sich in jeden einzelnen Satz des Romans verlieben, so perfekt und doch so urmenschlich sind sie.
Sarah Murrenhoff, rbbKultur