Sammlung Scharf-Gerstenberg - "Phantome der Nacht. 100 Jahre Nosferatu"
Vor 100 Jahren, im März 1922, feierte Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" Premiere im Marmorsaal des Zoologischen Gartens in Berlin. Die unautorisierte Stummverfilmung von Bram Stokers Schauerroman "Dracula" war damals ein gesellschaftliches Ereignis mit anschließendem großen Kostümball: Die Gäste sollten in Biedermeier-Kostümen erscheinen. Heute Abend eröffnet eine Ausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, die sich mit den Wechselwirkungen dieser Filmikone mit der Kunst befasst.
Die hagere Gestalt des Grafen Orlok auf dem Deck des Segelschiffes, unheimlich von oben herabschauend mit seinen krallenartig gespreizten Fingern. Sein bedrohlicher Schatten, der sich über die Treppe auf den gotischen Torbogen zum Zimmer seines nächsten Opfers zubewegt: es sind ikonische Bilder, die jeder kennt - selbst wenn man den Film nicht gesehen hat.
Ikonische Bilder, die jede/r schon mal gesehen hat
Bilder, die ihre Kraft über ein Jahrhundert bewahrt haben, sagt Jürgen Müller, einer der drei Kurator:innen der Jubiläumsschau:
"Wir haben versucht, in der Ausstellung auch zu klären, wie es geschafft wurde, dass dieser Film so intensiv ist - auch noch nach 100 Jahren. Und dazu gehört die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst. Dazu gehört die Verknappung von Raum, das sind immer flächenhafte Erscheinungen. Und die Unmöglichkeit, vor dem Monstrum zu fliehen. Dazu gehört die Vernetzung der Bilder: Das Spinnennetz ist eine ganz starke Metapher in dem Film. Und dazu gehört auch das, was in 'Nosferatu' ist - und nicht im Roman von Bram Stoker: Dieses Spiel mit der Ansteckung, mit der Krankheit, mit den Ratten."
Pandemie damals und heute
Tatsächlich hat die Corona-Pandemie nicht nur die Ausstellungseröffnung um ein Jahr verzögert, sondern auch für eine zusätzliche Ebene von Realität, einen weiteren Dialog über die Zeiten hinweg gesorgt, wie Co-Kurator Frank Schmidt erläutert:
"Eine große Rolle im Film spielen Ratten - einfach, weil die Ratten Überträger der Pest waren. Zur damaligen Zeit in Europa, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, gab es Typhus und die Spanische Grippe. Das heißt, die Menschen, die damals ins Kino gegangen sind, hatten eine Assoziation, wenn sie diese Pest-Epidemie gesehen haben. Sie hatten einen unmittelbaren Zugang dazu, wie jetzt auch wieder. Das ist eine Parallele zu heute, die uns eingeholt hat: Dass man jetzt mit der Pandemie eine Aktualität erreicht hat."
Netz wechselseitiger Inspirationen
Das Gewölbe des klassizistischen Stüler-Baus der Sammlung Scharf-Gerstenberg ist eine ideale Kulisse für das Thema Schwarze Romantik - und die Ausstellungsräume sind in entsprechend schummriges Licht getaucht. Darin haben die drei Kurator:innen ein Netz wechselseitiger Inspirationslinien gespannt - zwischen Filmfotos, Filmprojektionen, Entwurfszeichnungen und Kunstwerken, Gemälden und Grafik.
Zum Teil fiel die Filmproduktion auf den fruchtbaren Boden der Zeitstimmung mit ihrem Faible für phantastische Motive.
Frank Schmidt: "Das Motiv des Baumes taucht im Film auf, das Motiv der Hyäne. Das sind alles Motive, an denen man sieht, dass man sich extrem bei der fantastischen Kunst der damaligen Zeit bedient hat. (...) Aber wir haben auch noch viele andere Künstler aus der Zeit, die teilweise gar nicht so bekannt sind - zum Beispiel tschechische Künstler. Da sieht man, wie diese ganz ähnliche Motive aufgreifen. Was nicht heißt, dass sich die Filmemacher genau daran orientiert haben. Aber es gibt eine unheimliche Begeisterung für das Fantastische in der damaligen Zeit."
Aber es gibt auch ganz konkrete Inspirationslinien zu berühmten Kunstwerken, wie die Szene, in der der Immobilienmakler Hutter am Morgen nach seiner Ankunft in Transsilvanien in Orloks Schloss aufwacht, merkwürdig schief in seinen Stuhl gegossen.
Frank Schmidt: "Dann liegt der am Anfang da, schlafend, in der Pose, die so auffällig ist, dass man sie sehr schnell auf Goya zurückgeführt hat. Es gibt viele Motive im Film, bei denen man sieht: da gibt es diese Orientierung an der Kunst."
Sammlung Scharf-Gerstenberg: Phantome der Nacht. 100 Jahre Nosferatu
Positionen zeitgenössischer Kunst
Neben vielen Kunstwerken, die es zur Entstehungszeit des Films schon gab - unter anderem von Caspar David Friedrich, Johann Heinrich Füssli, Alfred Kubin oder Francesco de Goya -, gibt es auch Verbindungslinien zu drei Positionen der zeitgenössischen Kunst: Neben der Australierin Tracy Moffatt auch die Amerikanerin Louise Lawler.
Kyllikki Zacharias, Leiterin der Sammlung Scharf-Gerstenberg und Co-Kuratorin der Ausstellung:
"Louise Lawler hat im Museum abstrakte Werke von Donald Judd ohne künstliche Beleuchtung nachts im Museum über mehrere Stunden fotografiert, und das ist eigentlich eine abstrakte Form des unheimlichen Raumes, der sich auftut in unserer Ausstellung. 'Die Phantome der Nacht' - das ist ja Plural, damit ist ja nicht nur 'Nosferatu' gemeint, sondern auch das Phantomatische an sich und auch das phantomhafte der bewegten Bilder des Kinos, denn das Kino ist ja im Grunde ein phantomhaftes Genre."
Albin Graus großartige Entwürfe für den Film und seine Werbekampagne
Besonders eindrucksvoll ist eine Fülle von Entwurfszeichnungen und Werbematerialien aus dem Nachlass von Albin Grau, für den der Film damals eine echte Herzensangelegenheit war.
Frank Schmidt: "Grau war nicht nur Produzent, sondern auch Ausstatter des Films, er hat die komplette Werbekampagne des Films entworfen. Wir sehen in der Ausstellung zum Beispiel Originalplakate, Entwürfe für vier große Berliner Plätze. Und für jeden Platz gab es einen eigenen Plakatentwurf. Diese Plakate sind wunderschön, auch in ihrem Aufbau und in ihrer Farbigkeit."
Allein die wunderbaren, expressionistischen Entwürfe von Albin Grau sind schon ein gewichtiger Grund, diese vielschichtige Ausstellung zu besuchen.
Anke Sterneborg, rbbKultur