Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart - Sandra Mujinga: "IBMSWR: I Build My Skin With Rocks"
Ihre überlebensgroßen Stoff-Figuren würden den Eindruck erwecken, sie kämen aus einer vergangenen Zukunft, hieß es in der Begründung der Jury, die Sandra Mujinga 2021 den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst verliehen hat. Zu diesem Preis gehört u.a. eine Einzelausstellung, in der die aus dem Kongo stammende und in Norwegen aufgewachsene Künstlerin nun eine gänzlich andere, aber ähnlich rätselhafte Arbeit zeigt.
Ein hypnotischer Soundtrack erfüllt die weitläufige historische Halle des Hamburger Bahnhofs, in deren hinterem Teil ein Ehrfurcht gebietender schwarzer Kubus bis fast zur Decke reicht. Über seine Stirnseite, die sich als riesiger LED-Screen entpuppt, huschen Bilder schrundiger grauer, dann wieder quecksilbrig heller Oberflächen.
Erscheinen und Verschwinden
Weiße Blitze zucken, Farbe scheint auf und verschwindet wieder, ebenso wie menschliche Hände und ein Paar riesenhafter Füße - einer vor den anderen gesetzt, wie es Raubkatzen tun. Was wir sehen sind Ausschnitte, in extremer Nahsicht und durch Überlagerungen erzeugte Bilder – ebenso sinnlich, wie uneindeutig. Es ist genau dieses scheinbare Paradox, in dem Mujinga ihre Kunst ansiedelt: Konkret und ominös, anziehend und distanzierend.
IBMSWR
Der ebenfalls rätselhaft erscheinende Titel, "I Build My Skin With Rocks' (IBMSWR) - "Ich Baue Meine Haut Aus Felsen" - variiert einen Satz des Vordenkers postkolonialer Identität, Édouard Glissant ("Ich baue meine Sprache aus Steinen"). Überhaupt war Text der Ausgangspunkt dieser Arbeit. Sie habe sich den letzten Elefanten auf der Erde vorgestellt – eine Elefantin – und darüber geschrieben, erzählt die Künstlerin. Sie imaginierte ein Tier, das, um zu überleben, vermenschlicht, das sich eine harte Schale zulegt – aus Verletzlichkeit – und sich so unkenntlich macht.
Worldbuilding
Wie die Autoren von Science-Fiction oder Fantasy-Romanen, beginnt Sandra Mujinga ihren Arbeitsprozess mit "Worldbuilding" – der Konstruktion einer imaginären, fantastischen Welt. Doch was zunächst nach Öko-Kitsch klingt, war nur der Ausgangspunkt, den sie im Arbeitsprozess aufgelöst hat. Nichts von detaillierter Erzählung ist jetzt zu sehen. Alles Anekdotische wurde verdichtet zu dem großen schwarzen Fremdkörper, der wie die Transportkiste für ein Mammut wirkt – belebt durch die auf- und abtauchenden Bilder auf seiner Stirnseite. Zwei Stufen führen dort hinauf, als könnte man selbst dahinter, darin verschwinden.
Von Festlegungen befreien
"Verschwinden", "Verstecken" sind Schlüsselbegriffe im Werk der 33-jährigen Künstlerin, die als schwarzes Kind in Norwegen früh die Erfahrung gemacht hat, aufzufallen und doch nicht eigentlich gesehen zu werden. Den Klischees, die schwarze Menschen auf ihren Körper und die pauschale Annahme von Fähigkeiten wie Singen und Tanzen reduzieren, entzog sie sich, indem sie das Gegenteil behauptete und auf Partys zum Beispiel absichtlich schlecht tanzte.
Heute sieht sie auch solche Abgrenzungen als Beschränkung: "Je älter ich bin, umso deutlicher spüre ich, dass ich nicht 'im Verhältnis zu' weißer Hautfarbe existiere.“
Sich Festlegungen zu entziehen, kann ein Akt der Befreiung sein. Auch Sandra Mujingas Arbeit für den Hamburger Bahnhof entzieht sich, bleibt trotz der physischen Präsenz ungreifbar – und damit: paradox. Kann man "Verschwinden" ausstellen? Offenbar.
Silke Hennig, rbbKultur