Drama - "Mehr denn je"
In Filmen wie "Das Fremde in mir", "Töte mich" und zuletzt "3 Tage in Quiberon" über drei Interviewtag mit Romy Schneider hat die deutschfranzösische Filmregisseurin Emily Atef immer wieder von Frauen in ganz unterschiedlichen Krisensituationen erzählt. Das gilt nun auch für ihren neuesten Film "Mehr denn je", der im Frühjahr auf dem Festival in Cannes Premiere feierte und jetzt bei uns ins Kino kommt. Vicky Krieps spielt darin eine junge Frau, die sich mit einer tödlichen Lungenkrankheit auseinandersetzen muss.
Weg zu innerer Stärke
Auch wenn man kein Feelgood-Movie erwarten sollte, hat Emily Atef doch immer wieder ganz ausdrücklich gesagt, dass "Mehr denn je" kein Film über den Tod und das Sterben ist, sondern ein Film über das Leben, über den letzten Abschnitt davon. Immer wieder hat sie in ihren Filmen, Frauen durch eine Lebenskrise begleitet, in "Mollys Way" eine Mutter, die den Vater ihres ungeborenen Kindes sucht, in "Das Fremde in mir" eine mit postnatalen Depressionen ringende Mutter, in "Töte mich" ein suizidaler Teenager und zuletzt in "3 Tage in Quiberon“ die am Leben zerbrechende Romy Schneider. Doch immer hat sie ihren Heldinnen gerade in dieser schwierigen Zeit einen Weg zu innerer Stärke eröffnet. In "Mehr denn je", bedeutet das auch, dass der Film, der sich auf das Ende des Lebens zubewegt, dabei nicht dunkler wird, sondern tatsächlich immer heller und luftiger.
Tödliche Mischung aus Mitleid und Hilflosigkeit
Am Anfang des Films sieht man ein Paar vor einem Abend mit Freunden, Hélène. möchte nicht so richtig, wirkt sehr zerbrechlich und fragil, Matthieu beruhigt, ermuntert, unterstützt sie behutsam, hilft ihr, beim Anziehen und sogar beim Schminken. In der Wohnung der Freunde ist die Stimmung beklemmt, in einer tödlichen Mischung aus Mitleid und Hilflosigkeit, und dann wird sie auch noch gefragt, wann sie denn wieder arbeiten gehen wird. Augenblicklich wird die unüberbrückbare Kluft spürbar, zwischen denen, die jung ihr Leben planen, und ihr, die sich mit nur 33 Jahren mit dem eigenen Sterben beschäftigen muss. Sie ist schon meilenweit entfernt von den Freunden aus der Zeit vor ihrer Diagnose, sogar von der offensichtlich mal sehr großen Nähe zu ihrem Freund. Während ihre Freunde ihre Leben planen, muss sie einen Weg finden, ihres abzuschließen. "Niemand weiß wie er sich verhalten soll in einer Situation wie dieser“, sagt Hélène einmal: "Aber ich weiß es am allerwenigsten."
Trost in der Natur der norwegischen Fjorde
Trost findet Helène dann im Internet, bei einem alten Mann, der weit entfernt in den norwegischen Fjorden lebt und schon eine sehr viel abgeklärtere Haltung zu seiner tödlichen Krankheit hat. Er weiß auch schon, wie schwierig bei aller Zugewandtheit und Liebe, die Kommunikation der Sterbenden mit den Lebenden ist. Und dann trifft sie eine Entscheidung, die für ihren Freund Matthieu schwer zu schlucken ist: Sie beschließt den alten Mann in der Einsamkeit der Natur zu besuchen, Matthieu ist besorgt, willigt ein, sucht nach Lösungen für eine Vertretung bei der Arbeit, doch sie wehrt ab, nein sie müsse alleine fahren. Während er die kostbare noch verbleibende Zeit mit ihr verbringen will, und auch darauf drängt, dass sie die Chance einer riskanten Lungentransplantation nutzt, ist sie entschlossen, ihren persönlichen Weg finden.
Schwerelosigkeit und Auflösung
Ein Film über Unsicherheit und fragile Gefühle: Vicky Krieps meistert den Balanceakt zwischen der Intensität roher Gefühle, ganz ohne Pathos, mit ihrem wunderbar durchlässigen Spiel. Gesprochene Worte ersetzt sie weitgehend durch Körpersprache, Stimmlagen, Pausen. Und Emily Atef unterstützt in ihrer Inszenierung, in Szenen, in denen die Elemente, das Wasser, der Wind, Zustände von Schwerelosigkeit und Auflösung anklingen lassen, immer stärker, je mehr sich Hélène von der Enge der urbanen Zivilisation entfernt und der Natur annähert, je näher sie ihrer Entscheidung kommt. Gaspard Ulliel gibt dem ohnehin sehr berührenden Film als Hélènes Freund Matthieu noch eine weitere tragische Grundierung, denn kurz nach Ende der Dreharbeiten ist er mit nur 37 Jahren bei einem Skiunfall ums Leben gekommen. Dennoch: „Mehr denn je“ s ist weniger ein Film über das Leiden und den Schmerz, als ein wohl wehmütiger, aber zugleich auch sehr tröstlicher Film, eine Anleitung zum würdevollen, friedlichen, selbstbestimmten Sterben.
Anke Sterneborg, rbbKultur