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Am 30.10.1952 eröffnete das Berliner Maxim Gorki Theater mit "Für die auf See". Ein Werk des sowjetischen Autors Boris Lawrenjow. Das Haus war in der DDR als "Ort zur Pflege russischer und sowjetischer Theaterkunst" gegründet worden. Später waren Heiner Müller und Thomas Langhoff prominente Vertreter einer neuen Generation von Theatermachern am Gorki. Seit 2013 ist das Gorki ein Theater der postmigrantischen Gesellschaft und gilt damit als einzigartig in der deutschen Theaterlandschaft. Die Geschichte eines immer schon politischen Theaters.
Emre Aksızoğlu Schauspieler,
"Das Gorki ist für mich wie so zu Hause und dieses Gefühl von Zuhause und Family ist eigentlich schon so ziemlich einzigartig."
"Das Gorki ist eigentlich so der German Dream, wenn man das so sagen darf. Es ist so ein Ort, den es zum Glück gibt, weil ich gar nicht wüsste, wo wir heute wären, wenn es, wenn es uns nicht gegeben hätte."
Ein bisschen… sind sie immer noch wie berauscht von sich, am Maxim-Gorki-Theater: Wie sie das Theater neu erfunden haben. Ein Haus, offen für alle. Politisch, aber anders, frisch, vielfältig.
Doch – es ist nicht das erste Mal, dass "das Gorki" sich in seinen 70 Jahren neu erfunden hat…
"IRRTUM BOYS der Zug hält nicht…"
Gegründet wurde es einst als Musterbühne für sowjetische Theaterkunst und sozialistischen Realismus. Sein Ruf ist bald der eines "braven Partei-Theaters". Bewegung kommt Ende der 70er Jahre ins Gorki: Thomas Langhoff kommt als Regisseur ans Haus, will die "Drei Schwestern" inszenieren.
Dafür möchte er eine junge Schauspielerin vom Schweriner Theater holen. Ruth Reinecke.
Und es gewöhnt sich nicht.
Ruth Reinecke, Schauspielerin
"Da war ich sehr aufgeregt, weil auf der einen Seite wollte ich das natürlich unbedingt machen. Das war eine große Chance, so an. Auf der anderen Seite. War das Gorki Theater überhaupt nicht das Theater meiner Wahl. Ganz im Gegenteil."
Thomas Langhoffs "Drei Schwestern" begründen den Ruf des Hauses neu – hier geht es nicht um Menschen aus einem vergangenen Jahrhundert, und auch nicht um Moskau. Hier geht es plötzlich um die Sehnsüchte und die Verzweiflung Vieler in der DDR. Knapp zehn Jahre später schreibt der Dramatiker Volker Braun eine Art Fortsetzung, nennt sein Stück "Die Übergangsgesellschaft". Wieder inszeniert Thomas Langhoff, und wieder wird die Inszenierung zum Ereignis: Weil sie die Stagnation des Landes auf die Bühne bringt.
Ruth Reinecke spielt Mette.
"Ich will… alles herauslassen."
Ruth Reinecke, Schauspielerin
"Das war der entfesselte Anspruch einer jungen Frau, die sagt lasst mich verdammt noch mal leben und über meine Grenzen gehen. Und das waren ja mehr als meine, also von der Figur gedacht. Private Grenzen. Das war ja klar, das war ja eine Initialzündung. Ich will über die Grenze gehen. Oh, machten die da unten, und haben den Mund aufgerissen."
Theater als existenzielle Erfahrung. Auch das war ein Rausch. Ein Jahr nach der Premiere fällt die Mauer. Und Theater ist plötzlich nur noch: Theater.
Ruth Reinecke, Schauspielerin
"Diese Zeit nach der Maueröffnung das war für mich persönlich die schrecklichste Zeit. Als Schauspielerin, die leidenschaftlich gern Theater macht vor vollen Häusern. Es kam keiner mehr. Die Theater wurden Leerer und Leerer und Leerer. Und das ist eine ganz, ganz furchtbare Zeit gewesen. Also wirklich schrecklich, weil man, man wird so des Platzes verwiesen. Also die Zuschauer sagen, indem sie nicht kommen: Ihr interessiert uns natürlich überhaupt nicht."
Ende der 90er Jahre füllt ein neuer Intendant aus dem Westen das Haus mit Stars und gehobenem Boulevard – Harald Juhnke, Ben Becker, Katharina Thalbach. Doch das Profil bleibt unscharf. 2013 übernehmen Shermin Langhoff, Theaterfrau mit türkischen Wurzeln, und Jens Hillje das Gorki. Eine Bühne, jenseits der Ost-West-Scharmützel soll es werden, ein Theater für ein neues Deutschland. Das Ensemble: Jung, divers – Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund. 2015 kommt Cigdem Teke ans Gorki. Sie stammt aus Dinslaken, ihre Eltern aus der Türkei.
Çiğdem Teke, Schauspielerin
"Als ich hier angekommen bin, habe ich gemerkt, dass ich mit meinem Hintergrund einfach hier dann mehr so eine Art Durchschnitt bin oder Normalität lebe und nicht mehr, nicht mehr die Ausnahme bin. Allein schon diese Tatsache macht eigentlich das, dass das Gemeinschaftsgefühl oder Zuhause Gefühl entstehen kann."
Ruth Reinecke, Schauspielerin
"Das war wie eine Explosion, die, die die jungen Leute, die hier angetreten sind, die hatten ein solches Bedürfnis, sich zu zeigen und sich zu äußern und zu sagen, wie es ihm ums Herz steht. Das war auch was Tolles."
Diese Energie trägt das Haus bis heute. Ruth Reinecke war bis 2020 dabei. Jetzt spielen andere hier wie um ihr Leben. Darunter machen sie es selten… Ist das schon politisch? Und was heißt das überhaupt, im Gorki in seinem 70. Jahr?
Emre Aksızoğlu Schauspieler,
"Der Akt des Spielens an sich ist politisch und spielen zu dürfen und eine Stimme zu haben. Das heißt ich kann gehört werden und das ist das was hier passiert. Also ein Raum für alle."
Die größte Stärke des neuen Gorki ist eine alte: Sie haben etwas zu sagen. Und manchmal auch nicht.
Autor: Tim Evers