Ein Jahr Lauterbach -
Die Gesundheit brennt, viele Kliniken stehen vor dem Kollaps – und alle schauen auf den einstigen Hoffnungsträger: Karl Lauterbach. Geht er die Probleme richtig an? Anfang des Jahres war der von der Twitter-Community ins Amt gelobte Gesundheitsminister noch der beliebteste Politiker. Doch die Gunst schwindet: So manche Regierungskollegen wirken genervt vom ewig twitternden Corona-Mahner, in seinem Ministerium rumort es - und selbst Ärzte und Pflegekräfte fühlen sich zunehmend im Stich gelassen. Kürzlich hat FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki gar gepoltert, Lauterbach bleibe nicht bis zum Schluss im Amt. All das scheint den Wissenschaftler kaum zu beirren. Er macht ein Gesetz nach dem anderen, eine Verordnung nach der nächsten. Nun hat er gar eine Revolution für die Kliniklandschaft angekündigt, drunter macht er es nicht. Aber auch hieran nimmt die Kritik zu: Mehr Revolutiönchen statt Revolution?
Anmoderation: Selten lag so vieles so sehr im Argen in unserem Gesundheitssystem – volle Stationen, volle OP-Pläne, Kliniken im Notbetrieb: Dieses System ist alles andere als gesund – es braucht jemanden, der es umkrempelt. Schonungslos ehrlich – auch auf die Gefahr hin, sich unbeliebt zu machen. Dazu fachlich versiert – im Grunde jemanden wie Karl Lauterbach. Der hat den Posten ja auch. Seit einem Jahr schon. Aber inzwischen mehren sich die Zweifel ob er wirklich der richtige für den Job ist. Chris Humbs, Daniel Schmidthäussler und Lea Schulze.
Das Gesundheitssystem ist am Limit.
Pflegerin am Telefon
"Wir nehmen leider keine neuen Patienten mehr auf."
Kliniken weisen sogar Kinder und Babys ab. Die einfachsten Medikamente – fehlen. Ärztinnen und Pfleger protestieren. Adressat ist der Bundesgesundheitsminister – selbst Mediziner, eigentlich einer von ihnen.
Magdalena Martens Pflegekraft Ev. Waldkrankenhaus Spandau
"Natürlich haben wir uns mehr erhofft. Mehr schnelle Hilfe."
06.12.2021
"Er wird es."
Letztlich kam auch Olaf Scholz nicht an ihm vorbei. Nachdem sich der Corona-Erklärer und Studien-Leser in Herz und Verstand vieler Bürger getalkt hatte.
Auf Twitter hatte das #TeamLauterbach" über Monate mit dem Hashtag #wirwollenkarl für ihn getrommelt.
Christoph Hickmann, Stv. Leiter Spiegel Hauptstadtbüro
"Er wäre ja ohne dieses massive Rampenlicht, das er in der Corona-Pandemie gesucht und gefunden hat, nie Minister geworden. Dadurch erst hat er ja diese breite Popularität erlangt, die dann Olaf Scholz am Ende so unter Druck gesetzt hat, dass es komplett blöd ausgesehen hätte, diesen Mann nicht zum Gesundheitsminister zu machen."
Die SPD hatte sich mit der Nominierung ursprünglich schwergetan, erinnert sich Norbert Walther-Borjans, damals SPD-Chef.
Norbert Walther-Borjans (SPD), Parteivorsitzender 2019-2021
"Es gab natürlich genau die, die gesagt haben: Aus diesem Grund, ein Politiker, der darf gar nicht so festgelegt sein mit einer eigenen Meinung. Und natürlich haben wir darüber diskutiert."
Noch im Januar war Lauterbach der beliebteste Politiker der Regierung – inzwischen sind das Baerbock und Habeck. Der Hype ist vorbei. Vor zwei Tagen treffen wir Lauterbach auf dem "Bewegungsgipfel".
Was fällt ihm spontan ein, wenn er nach seinem größten Erfolg gefragt wird?
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister
"Zunächst einmal sind wir aus der Perspektive "Wie viele Menschen sind gestorben, wie viele Menschen sind schwer erkrankt?" sind wir etwas besser aus der Corona-Pandemie bisher herausgekommen als unsere Nachbarländer."
Dass ihm als erstes der Kampf gegen Corona einfällt, ist fast schon symptomatisch.
17.12.2021
"Welches Kind, also wer von euch möchte von mir geimpft werden?"
Seit einem Jahr hat Corona den Minister im Griff. Lauterbach bleibt lange bei seiner Linie als ewiger Mahner – auch als längst die mildere Omikron-Variante dominiert.
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister
"Ich gehe von einer massiven fünften Welle aus. Das heißt, wir müssen uns hier tatsächlich auf eine Herausforderung einstellen, die wir in dieser Form noch nicht gehabt haben."
Der Mahner lag mit dieser Prognose daneben.
Beim Infektionsschutzgesetz fehlt ihm das Gespür für das Durchsetzbare. Viele seiner Schutzmaßnahmen kassiert die FDP mit Justizminister Buschmann – die Lage ist zu entspannt für drastische Maßnahmen.
Lauterbachs Autorität schwindet. Zunächst stimmt der Mahner – für alle überraschend – der Abschaffung der Isolationspflicht zu. Zwei Tage später dann die Kehrtwende – im Alleingang bei Lanz.
Markus Lanz (ZDF) 05.04.2021
Lauterbach
"Diesen Punkt, also dass die Infizierten, dass die sich selbst isolieren und nicht mehr durch das Gesundheitsamt aufgefordert werden, den werde ich wieder einkassieren. Weil als Minister..."
Lanz
"Ist das jetzt die Ankündigung?"
Lauterbach
"Ja, quasi die Ankündigung, das wird morgen offiziell werden und so weiter und so fort."
Die Kritik an diesem Stil ist laut - auch aus den eigenen Reihen.
Andreas Bovenschulte (SPD), Bürgermeister Bremen
"Da treffen Bund und Länder eine gemeinsame Entscheidung nach langer Diskussion in der Gesundheitsministerkonferenz. Und dann wird die zwei Tage später in einer Talkshow einfach abgeräumt. Das ist schon eine kommunikative Fehlleistung erster Güteklasse."
Rücktrittsforderungen werden laut. Lauterbach entschuldigt sich und bleibt. Tags darauf scheitert er mit seinem Antrag auf ein Impfpflichtgesetz.
Der Journalist Christoph Hickmann kennt Lauterbach, seit fast 15 Jahren begleitet er ihn, zuletzt für den Spiegel.
Christoph Hickmann, Stv. Leiter Spiegel Hauptstadtbüro
"Lauterbach war noch nie jemand, der breite Bündnisse und Mehrheiten in der Partei, in der Fraktion geschmiedet hat. Das führt dann dazu, dass, bevor er ein großes Vorhaben aufsetzt, er anders als andere nicht schon die Mehrheit überzeugt hat, bevor er losmarschiert. Sondern Lauterbach marschiert los."
Hinter den Kulissen des Gesundheitsministeriums ist die Rede von einem "rüden Umgangston". Eine Neuregelung jage die andere. Lauterbach wisse alles besser, sei zu konfrontativ, nicht ausreichend ministrabel. Die Gleichstellungsbeauftragte im Ministerium wird vom Spiegel zitiert. Sie beklagt "massive inhaltliche Verständigungsprobleme". Ein bemerkenswerter Vorgang.
Der politische Gegner in der Koalition nutzt die Gunst der Stunde. FDP-Vize Wolfgang Kubicki poltert.
Wolfgang Kubicki (FDP), Stv. Bundestagspräsident
"Ich gehe, ehrlich gesagt, nicht davon aus, dass Karl Lauterbach als Gesundheitsminister die ganze Legislaturperiode im Amt bleibt." Und weiter: "Er verzettelt sich. Er kann das Haus nicht führen."
Christoph Hickmann, Stv. Leiter Spiegel Hauptstadtbüro
"Der regiert sozusagen von oben nach unten und sagt denen: 'Leute, ich habe das gelesen. Ich weiß es. Das müssen wir jetzt eigentlich so machen.' Für so ein Haus ist das extrem gewöhnungsbedürftig."
Es läuft nicht rund für Lauterbach. Hinzu kommen zuhauf aktuelle Probleme:
Wir sind in der Notaufnahme des Waldkrankenhauses Berlin-Spandau. Die Personalsituation unter den Pflegekräften ist extrem angespannt.
Magdalena Martens. Pflegekraft, Ev. Waldkrankenhaus Spandau
"Die Überfüllung der Rettungsstelle ist praktisch an der Tagesordnung, so dass wir den Abfluss hier nicht gewährleisten können aus der Rettungsstelle, sodass Patienten teilweise in der Rettungsstelle nächtigen müssen."
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Lauterbach denken?
Magdalena Martens, Pflegekraft, Ev. Waldkrankenhaus Spandau
"Stets bemüht. Und redet auch sehr viel darüber. Ja."
Daniel Zische, Pflegekraft, Ev. Waldkrankenhaus Spandau
"Was kommt hinten raus, dabei. Stets bemüht zu sein … und der Effekt tritt nicht ein."
Die Lage in den Krankenhäusern spitzt sich immer weiter zu. Schnelle Lösungen sind nicht in Sicht. Obwohl Lauterbauch mit seinen mehr als 60 Gesetzen und Verordnungen weit mehr als sein Vorgänger im ersten Jahr auf den Weg gebracht hat. Nun will er den ganz großen Wurf und damit eine Art Vermächtnis hinterlassen: Der Patient Krankenhaus soll durch eine andere Finanzierung geheilt werden, weg von den sogenannten Fallpauschalen - die Lauterbach 2003 selbst miteinführte.
Lauterbach ruft nun die Revolution aus:
Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit
"Es ist bisher nie grundsätzlich angegangen worden. Daher ist die Reform, die wir jetzt hier in Auftrag gegeben haben, an der wir jetzt arbeiten, aus meiner Sicht eine Revolution im System."
Christoph Hickmann, Stv. Leiter Spiegel Hauptstadtbüro
"Er kommt mit dem ganz hohen Anspruch. Er will in der Gesundheitspolitik nicht nur ein paar Stellschrauben drehen, sondern viele Dinge wirklich grundlegend anders machen, ob er das in vier Jahren hinkriegt. Wie er das hinkriegt, auch mit diesen Koalitionspartnern, da hätte ich meine Zweifel."
Er braucht auch die Länder, die müssen mitmachen. Doch viele fühlen sich übergangen oder wünschen sich, wie der Bayerische Gesundheitsminister im Gespräch mit Kontraste, lieber einen Fokus auf die drängendste Baustelle – den Pflegenotstand.
Klaus Holetschek (CSU), Gesundheitsminister Bayern
"Der Schlüssel ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege, auch Gehaltsstrukturen. Der Schlüssel ist die Ressource Mensch, die uns fehlt im Gesundheitssystem. Und deswegen brauchen wir die Revolution auch in der Pflege. Und zwar zuvorderst."
Auf dem Bewegungsgipfel sprechen wir ihn auch auf die Situation in den Kliniken an. Er zählt auf, was er schon alles auf den Weg gebracht hat.
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister
"…das Pflegeentlastunggesetz, also diese Einführung, wo also die Pflege besser auf den Stationen bemessen und ausgeglichen wird. Dann eben die Regelungen, die wir gemacht haben zur Entlastung der Kinderkliniken."
Darunter auch: Das Abziehen von Personal für erwachsene Patienten auf die Kinderstationen. Keine gute Idee meint der Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.
Jakob Maske, Kinderärzte Berufsverband
"Die neuesten Vorschläge von Herrn Lauterbach eben schnelle Lösungen zu finden, zeigen eine medizinische Inkompetenz, die wir so noch nicht gesehen haben. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Man kann nicht einfach mal Ärzte, Ärztinnen, Pflegekräfte auf die Kinderstation geben. Das führt zu einer Verschlechterung der Kinder- und Jugendmedizin."
Helfende Hände aus anderen Stationen können nicht schaden, meint Lauterbach. Und zudem gäbe es Geld für die Kinderkliniken:
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister
"Akut helfen wir ja. Wir nehmen ja 300 Millionen Euro in die Hand, um den Kinderkliniken zu helfen im nächsten Jahr."
Alexander Rosen, Kinderarzt
"Also ich glaube jede Kinderabteilung in Deutschland würde von 300 Millionen Euro sehr profitieren. Für ein Krankenhaus ist das sicherlich eine adäquate Menge, mit der Sie viel anfangen können. Aber für alle Krankenhäuser in Deutschland ist das tatsächlich ein Gießkannenprinzip, wo am Ende der Boden genauso trocken sein wird wie vorher." Dr. Rosen war Leiter der Kindernotaufnahme an der Charité – er weiß, wovon er spricht.
Bislang lächelt der Minister die Kritik weg. Ein Selfie mit Ex-Nationalspieler Phillipp Lahm. Das kommt auf Twitter. Es wirkt, als sei Lauterbach mit sich im Reinen.
Beitrag von Chris Humbs, Daniel Schmidthäussler und Lea Schulze